Literaturszene Köln: Liebe Tina Sander, kurz vorgestellt: mittendrin e.V., was ist das und wofür engagiert sich der Verein?

Tina Sander: Hinter dem Verein stehen Eltern behinderter Kinder, die eigentlich etwas ganz Selbstverständliches für ihre Kinder wollten: ein Aufwachsen, Leben und Lernen in der Kindergesellschaft am Wohnort. Als wir den mittendrin e.V. 2006 gegründet haben, war das aber alles andere als selbstverständlich: Rund um die Einschulung unserer Kinder befanden wir uns plötzlich in der Situation, dass das Schulamt für sie eigentlich nur die Sonderschule vorsah – und zwar unabhängig von unseren Wünschen. Wir waren der Meinung, dass diese strukturelle gesellschaftliche Ausgrenzung behinderter Kinder weit über unsere familiäre Betroffenheit hinausweist und in das Herz unserer demokratischen Gesellschaft zielt: Wer gehört eigentlich dazu?

Begonnen haben wir also mit dem Thema inklusive Bildung – das ist nach wir vor unser wichtigstes Anliegen. Bei der Aufgabe die inklusive Gesellschaft von morgen aufzubauen, ist die Schule der wichtigste Gamechanger: Hier sollten alle Kinder lernen, wie vielfältig Menschen sein können – und Behinderung ist eben eine Dimension von Vielfalt. Mit den Jahren haben wir uns mit unserer Arbeit dann weitere Bereiche angeschaut: die Teilhabe in Freizeit, Ausbildung und Kultur. Seit einigen Jahren berate ich jetzt die Kölner Kulturszene zu den Themen Barrierefreiheit und Inklusion.

Literaturszene Köln: Ihren Verein gibt es schon seit über 15 Jahre: Was hat sich positiv entwickelt und wo sehen Sie Fortschritte bei öffentlichen Veranstaltungen im Bereich der Inklusion?

Tina Sander: Positiv ist, dass wir seit 2009 als Deutschland die UN-Behindertenrechtkonvention ratifiziert hat, einen menschenrechtsbasierten Referenzrahmen haben: Mit diesem völkerrechtlichen Vertrag hat sich unser Land dazu verpflichtet, Menschen mit Behinderungen die gleichberechtigte Teilhabe an allen gesellschaftlichen Bereichen einzuräumen. Soweit das Papier. In der Umsetzung sind wir aber von diesem Anspruch noch weit entfernt, die Teilhaberechte behinderter Menschen müssen immer noch erkämpft und durchgesetzt werden – zum Teil gegen erhebliche Widerstände. Bei der zweiten Staatenprüfung Deutschlands zur Umsetzung der UN-BRK vor dem UN-Fachausschuss letztes Jahr in Genf, haben die Mitglieder des Fachausschusses Deutschland eine deutliche Rüge erteilt – wörtlich haben sie von Apartheid gesprochen – bezogen auf die Sondersysteme, wie Förderschulen, Behindertenwohnheime und Behindertenwerkstätten.

Im Unterschied zu früher ist die Inklusion jetzt aber immerhin auf die Agenda gerückt – auch in der Kultur. Ganz konkret erleben wir hier in Köln in der Kulturszene in Teilen bereits ein großes Interesse am Thema – allerdings noch nicht in der Breite.

Literaturszene Köln: Wie viele Mitglieder zählen Sie inzwischen und wo liegen Ihre Schwerpunkte?

Tina Sander: Wir sind ein kleiner aktiver Kern an stimmberechtigten Mitgliedern, die die strategische und inhaltliche Arbeit des Vereins verantworten – daneben haben wir rund 100 Fördermitglieder, die unsere Arbeit – wie oben beschrieben – unterstützen.

Literaturszene Köln: Sie arbeiten regelmäßig mit öffentlichen Institutionen und Festivals zusammen und bieten regelmäßig Workshops an: Wo sehen Sie aktuell den größten Bedarf und in welchem Bereich muss noch stärker mit- und umgedacht werden?

Tina Sander:  Das größte Umdenken liegt sicherlich darin, das Thema zu mainstreamen – und Menschen mit Behinderungen in Publikum, auf und hinter der Bühne als selbstverständlichen Querschnitt mitzudenken. Das passiert noch selten: In der Wahrnehmung vieler Kulturinstitutionen ist die Inklusion erstmal ein Extra- oder Sonderthema, das irgendwie als Trabant um das Kernthema „Kultur“ herumschwebt und weder inhaltlich noch auf Ebene der Organisationsprozesse selbstverständlich mitgedacht wird.

Weitere zentrale Themen sind die Bereitstellung von Ressourcen sowie die Steuerung der Umsetzung von Maßnahmen auf Ebene von Kulturpolitik und -verwaltung: Die Kommunen haben in ihrer Verantwortung zur Daseinsvorsorge ihrer Bürger*innen den Auftrag, Mittel zur Barrierefreiheit von Kulturangeboten im Haushalt bereitzustellen. Über die städtische Kulturförderung kann die Verwaltung den Prozess steuern. In Köln hat das Kulturamt – auf Initiative des Referats „Kultur als Akteur der Stadtgesellschaft – kulturelle Teilhabe“ hier erste wichtige Schritte umgesetzt: Alle Fördernehmer*innen wurden in einer Abfrage verbindlich aufgefordert, anzugeben, welche Maßnahmen zur Barrierefreiheit sie für die unterschiedlichen Behinderungsperspektiven ergreifen – und wenn nicht, warum. Außerdem ist aktuell ein Icon-Set zur Darstellung von Maßnahmen an Barrierefreiheit im Kulturamt in Arbeit, das hoffentlich bald allen Kulturakteur*innen als kostenfreier Download zur Verfügung steht. Damit lässt sich dann gut kommunizieren, wie es um die Zugänglichkeit von Kulturorten und -veranstaltungen bestellt ist – eine zentrale Forderung von Menschen mit Behinderungen.

Literaturszene Köln: Köln gilt gemeinhin als freundliche, offene Stadt – wie ist Ihre Wahrnehmung?

Tina Sander: Grundsätzlich nehme ich das auch so wahr. Aber wie der Behindertenrechtsaktivist Raúl Krauthausen sagt: Auch im Diversity-Rainbow-Land ist Behinderung die Vielfalts-Dimension, die als letztes genannt – und als erstes vergessen wird.

Literaturszene Köln: Was würden Sie sich für die Zukunft wünschen und wie kann die Literaturszene Köln aktiv mitgestalten und für mehr Inklusion sorgen?

Tina Sander:  Für die Zukunft wünsche ich mir, dass der begonnene Prozess zur Umsetzung von Inklusion im Kulturbereich hier in Köln ernsthaft weitergeführt – und mit Lust und Begeisterung mit Leben gefüllt wird. Gerade die Kultur bietet ein unglaubliches Potenzial das Thema kreativ anzugehen. Die Literaturszene kann in ihrem Netzwerk dafür ein Bewusstsein schaffen. Und wir freuen uns über Jede*n, der an unseren Beratungs-Workshops teilnimmt – oder einfach anruft, vorbeikommt und das Gespräch sucht. Unsere Workshops sind auf unserer Webseite hier zu finden:

https://www.mittendrin-koeln.de/angebote/kultur-inklusiv/termine-kultur-inklusiv

Vielen Dank, liebe Tina, für den Asutausch!

Tina Sander studierte Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften und ist Referentin für Öffentlichkeitsarbeit und Unternehmenskommunikation. Sie hat eine Tochter mit Down-Syndrom und ist Gründungsmitglied des mittendrin e.V. – ihre Bereiche sind: Öffentlichkeitsarbeit, Leitung Kultur-Projekte, Bündnis #NoNIPT

Die Fragen stellte Paula Döring für die Literaturszene Köln e.V.