HOFFNUNG

Ich habe mir über diesen Text den Kopf zerbrochen. Und auch fast meine Nägel. Ich habe die Sätze so energisch in die Laptoptasten gehauen, dass mein*e Sitznachbar*in im ICE irgendwann den Kopf geschüttelt hat. Dann habe ich jedes einzelne Wort gelöscht, und sie hat geseufzt. Ich schreibe etwas Lustiges, habe ich mir zuerst gedacht. Dann war ich doch kurz davor, wieder über Jesus zu schreiben, oder noch schlimmer: über meine Mutter. Ich könnte auch von enttäuschten Hoffnungen auf einer Zugfahrt mit der Deutschen Bahn erzählen, schoss mir dann durch den Kopf, damit könnte ich ganze Bücher füllen. Ich habe alle Ideen verworfen.

Ich habe mich gegen das Schreiben gewehrt und mit jedem zurückgelegten Meter auf der Bahnstrecke bereut, die Anfrage zu diesem Text angenommen zu haben. Ich habe die Hoffnung verloren, bei Ankunft einen vorzeigbaren Text aufzuweisen. Und sowieso, ich halte doch gar nichts von der Hoffnung! Viele Menschen überrascht das. Sie denken: Ein*e junge*r Autor*in, die*der sich dem Kampf gegen die Ungerechtigkeiten der Welt verschrieben hat, über Armut, rechten Terror und Kriege berichtet, queerfeministische, kommunistische Utopien der Zärtlichkeit zeichnet! Die muss doch hoffen!

Doch die Hoffnung ist nicht der Antrieb meiner Arbeit, weder meines Schreibens, noch meiner Fürsorge für andere Menschen. Die Hoffnung ist mir zu vage, zu inkonsequent, zu leicht zu erschüttern. Hätte ich mich auf die Hoffnung verlassen, hätte ich nicht nur gebrochene Nägel, sondern ein zerbröseltes Herz. Ich schreibe stattdessen oftmals der Hoffnungslosigkeit zum Trotz.

„Die Hoffnung ist eine Krankheit, mit der uns diese Zivilisation immerhin nicht angesteckt hat. Deshalb sind wir noch lange nicht verzweifelt“, schreibt das Unsichtbare Komitee, ein anonymes politisches Kollektiv aus Frankreich, in seiner Streitschrift Jetzt. „Niemand hat je aus Hoffnung gehandelt. Die Hoffnung steckt mit der abwartenden Haltung unter einer Decke, mit der Weigerung, zu sehen, was ist, mit der Angst, in die Gegenwart einzubrechen, kurzum mit der Angst zu leben.“

Mit der Angst leben. Wer kann es Menschen verübeln, die sich angesichts der Klimakatastrophe, die sich auch in diesem Sommer mit Dürre, Hitzewellen und Überschwemmungen in ihrer ganzen Gewalt offenbart hat, fürchten? Keine große Hoffnung in die Zukunft legen? Ich fürchte mich ständig.

Das muss jedoch nicht das Eingeständnis der eigenen Machtlosigkeit bedeuten, diese Einsicht kann eine Aufforderung sein: die Wurzeln der Angst freizuschaufeln, sich in diesem verworrenen Dickicht des Chaos zu verorten. Es kann etwa bedeuten, die Zusammenhänge von Klimakatastrophe, sozialer Ungleichheit, Profittreiben von Energiekonzernen, der Privatisierung von nachhaltigen Verkehrsmitteln wie der Deutschen Bahn verstehen zu wollen – und zu handeln. Die Angst und die Ohnmacht lassen sich am besten gemeinsam zähmen. Nicht das Hoffen und Bangen verändern die Welt, sondern die solidarische, organisierter Macht vieler Menschen, die sich füreinander verantwortlich machen.

Mit der Angst zu leben statt mit der Hoffnung bedeutet, der Sehnsucht völliger Harmonie abzuschwören, die es nun mal in einer Gegenwart der Kriege und Krisen nicht geben kann – und daraus die Notwendigkeit abzuleiten, ihr Visionen einer gerechten Zukunft entgegenzusetzen.

Ich verlasse mich nicht auf die Hoffnung, ich setze auf eine andere Haltung zur Welt: die Erwartung. Ich hoffe nicht, ich erwarte. Ich hoffe nicht, dass Menschen Teil jener solidarischen, organisierten Macht werden. Ich erwarte es. Und genauso reagiere ich auf die Erwartungen anderer Menschen. Die Erwartung unterscheidet sich darin von der Hoffnung, dass sie Menschen füreinander verantwortlich macht und in eine persönliche Beziehung zueinander setzt. Die Erwartung, die eine Antwort erfordert, zeigt in ihrer Verbindlichkeit ihre verändernde Kraft. Die Erwartung erwartet auch dann, wenn jede Hoffnung verloren und die Zugfahrt vorbei ist.

Şeyda Kurt ist Essayist*in, Journalist*in und Moderator*in. Sie schreibt und spricht über Philosophie, Kultur, Politik und linken Feminismus. Als Redakteur*in arbeitete sie an dem Spotify Original Podcast „190220 – Ein Jahr nach Hanau“, der mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet wurde. Sie ist Autor*in des Sachbuch-Bestsellers „Radikale Zärtlichkeit – Warum Liebe politisch ist“.