Der Klecks

Der Schokoklecks hatte einen Durchmesser von acht Zentimetern. Er befand sich im Treppenhaus auf der zweieinhalbsten Etage, gleich hinter der Efeutute. Bei Hitze war er flüssig und blubberte wie eine Teergrube; bei Kälte war er hart und zerkratzt, als würden Mäuse da nachts Schlittschuh fahren. Lange hatte ich gehofft, dass er irgendwie von alleine verschwinden würde, aber eines Morgens, als ich die Treppenhauspflanze goss, sah der Klecks größer aus. Als würde er wachsen. Da konnte ich ihn nicht mehr ignorieren. Ich musste herausfinden, wer für den Klecks verantwortlich war.

Meine Hauptverdächtigen waren die Kinder aus der dritten Etage. Die polterten täglich die Treppen rauf und runter. Vielleicht war den Eltern nicht aufgefallen, dass ihre Bälger gekleckert hatten? Ich schrieb einen freundlichen Hinweis über das kindliche Missgeschick auf einen Zettel und warf ihn in ihren Briefkasten. Ich hoffte, die Angelegenheit wäre damit erledigt, aber der Fleck hinter der Efeutute verschwand nicht. Ganz im Gegenteil. Er wurde größer und dunkler und fing auch noch an, unangenehm zu riechen. Also schrieb ich eine weitere Nachricht – dieses Mal etwas auffordernder – und schob ihn der Familie unter ihre Wohnungstür. Plötzlich öffnete sich die Tür, und da stand der Familienvater mit rotem Gesicht, als hätte er auf mich gewartet, und brüllte mich an, ob ich denn nichts Besseres zu tun hätte, als die Flecken im Treppenhaus zu zählen? Da brüllte ich natürlich zurück, doch was wir da genau brüllten, das weiß ich nicht mehr. Als ich aber wieder nach unten ging, war der Schokoklecks groß wie eine Pfütze und ich musste mich am Treppengeländer vorbeihangeln, um meine Pantoffeln nicht in Schokosoße zu tunken. 

Abends lag ich wach im Bett und lauschte dem Blubbern im Treppenhaus. Die Pfütze breitete sich aus. Da war ich mir sicher! Ich rief bei der Hausverwaltung an, um mich zu beschweren, aber weil es schon spät in der Nacht war, konnte ich meine Sorgen nur dem Anrufbeantworter anvertrauen. Am nächsten Morgen meldete sich niemand zurück, obwohl ich mehrere eindringliche Nachrichten hinterlassen hatte. Wie es aussah, musste ich die Dinge selbst in die Hand nehmen. Ich wandte mich an die Person, die für die Sauberkeit im Treppenhaus direkt verantwortlich war: unsere Reinigungskraft. Ich weiß nicht genau, wie sie heißt oder woher sie kommt. Sie spricht nicht so gut Deutsch und normalerweise störe ich niemanden gerne bei der Arbeit. Da es sich aber um einen Notfall handelte, machte ich ihr in großen Gesten verständlich, dass der Ausbreitung des Schokosumpfes auf der zweieinhalbsten Etage unbedingt Einhalt geboten werden müsse! Ich dachte, sie hätte mich verstanden, weil sie recht häufig nickte, als ich ihr das Problem beschrieb. Aber als ich am nächsten Morgen meine Post aus dem Briefkasten holen wollte, konnte ich meine Wohnung schon nicht mehr verlassen, weil der Schokosumpf bis zu meiner Türschwelle reichte.

Da wurde ich mir meiner Verantwortung bewusst. Es lag an mir, das Haus und all die Bewohner vor einer Schokokalypse zu retten. Ich schnappte mir Gummihandschuhe und einen Eimer und wollte mich daranmachen, die Ordnung im Treppenhaus wieder herzustellen, aber ich konnte keinen Lappen finden. Das muss man sich mal vorstellen. In meiner ganzen Wohnung gab es keinen Lappen. Wie deprimierend! Ich wollte schon mein T-Shirt verwenden, um die Soße aufzuwischen, aber dazu konnte ich mich nicht durchringen. Immerhin war ja nicht ich für das Schoko-Fiasko verantwortlich, sondern, so vermutete ich mittlerweile, der Kindsvater aus der dritten Etage. Anders konnte ich mir seinen Wutausbruch nicht erklären. Und wieso sollte ich mein Hab und Gut beschädigen, um die Fehler der anderen zu korrigieren? Das wollte mir dann doch nicht in den Sinn. 

Aufgeben wollte ich aber auch nicht. Da war ich nicht der Typ für. Voller Tatendrang entfernte ich die Fußleisten in meinem Schlafzimmer und nagelte sie ganz unten an meine Wohnungstür, damit der Schokoladensee auch wirklich draußen bliebe. Dann setzte ich mich an meinen Küchentisch und hoffte, dass alles nicht so schlimm werden würde. Gut – die Efeutute würde eingehen. Das war schade. Aber sonst bliebe ja alles beim Alten. Ich hatte sogar noch genug Geld, um mir für die nächsten Monate mein Essen im Internet zu bestellen. Ich würde bei der Bestellung einfach angeben, dass das Treppenhaus zurzeit unbegehbar sei. Dann würde ich ein Seil an eine Tüte binden und sie vom Balkon runter zur Straße lassen, damit der Lieferant mir mein Essen in die Tüte legen und ich es zu mir hoch in die Wohnung ziehen könnte. Da war ich plötzlich ziemlich stolz auf mich und meinen Erfindungsreichtum. Und ich malte mir aus, wie dankbar mir die anderen Hausbewohner sein würden, wenn ich ihnen meine Überlebenstricks bei einer morgendlichen Balkonplauderei verriet. Nur der Familie aus der dritten Etage würde ich nichts verraten. Da bin ich dann doch ein bisschen nachtragend.

Samy Challah

Samy Challah wurde 1979 in Griechenland geboren. Er studierte an der Kunsthochschule für Medien in Köln und arbeitet als Cartoonist, Schauspieler, Autor und Puppenfilmer. Seine Kurzgeschichte »Gespenster« belegte bei den Kölner Literaturtagen den ersten Platz. Er ist Vater von zwei Kindern und lebt mit seiner Familie im Rheinland.

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www.samychallah.de