Christina Bacher: Als ich 2007 nach Köln kam, kam dieser Job als Chefredakteurin beim Straßenmagazin DRAUSSENSEITER (damals BANK EXTRA) einfach irgendwie auf mich zu – das war irgendwie schicksalhaft, denn durch die Leute, die zumeist wohnungslos sind und dieses Magazin verkaufen, habe ich einen ganz besonderen Blick auf Köln entwickeln können. Nächstes Jahr arbeite ich – immer als Freiberuflerin – 15 Jahre für den Draussenseiter, der von dem Verein OASE – Benedikt Labre e.V. herausgegeben wird, einer Anlaufstelle für Menschen in schwierigen Situationen mit Beratungsmöglichkeiten, einer Kleiderkammer und einem Offenen Treff. Die Arbeit mit Obdachlosen hat mich so geprägt, dass sie nach und nach auch mein literarisches Schaffen beeinflusst hat. Denn neben den Sachbüchern „Köln trotz(t) Armut“ (2014) und „Die Letzten hier. Köln im sozialen Lockdown“ (2021) entwickele ich auch für meine Romane – egal ob für Kinder oder erwachsene – gerne Figuren, die sich am Rande der Gesellschaft bewegen.
CB: Der Impuls zu dem Thema kam aus Stuttgart von den Kolleg*innen der Trott-war. Wir arbeiten immer wieder im INSP mit zahlreichen Straßenzeitungen weltweit zusammen und tauschen Texte aus oder besprechen uns, wenn es bestimmte Probleme gibt. Dass die Bibliotheksnutzung von Obdachlosen oder Menschen mit wenig Budget bislang selten im Fokus stand, hat Sylvia Rizvi zu einer kleinen Studie animiert. Sie wollte herausfinden, welche Gründe für Menschen auf der Straße eine Hürde darstellen, die städtischen Bibliotheken zu nutzen. In aller Kürze: Viele haben einen Hund, den sie nicht mit reinnehmen können. Manche fühlen sich beobachtet oder nicht willkommen, vielleicht auch nur, weil sie sich grundsätzlich nicht willkommen fühlen in der Gesellschaft. Andere müssen regelmäßig rauchen oder trinken, beides geht natürlich nicht auf dem Bibliotheksgelände. Und der Ausweis kostet natürlich auch Geld. Das schreckt einige ab. Tatsächlich gibt es ja sehr viele belesene Leute, die „Platte“ machen. Die bekommen ihren Lesestoff aber vor allem aus Offenen Bücherschränken oder aus den Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe. In meinem Interview mit Frau Dr. Vogt von der hiesigen Stadtbibliothek wurde auch nochmal klar, dass diese Zielgruppe nicht explizit ausgeschlossen wird, sondern jede*r Bürger*in eingeladen ist, die Räumlichkeiten zum Lesen und Verweilen zu nutzen, im Sinne eines “Dritten Raums“. Das ist ja schonmal schön zu hören.
CB: Ich finde, man sollte Wohnungslose und Obdachlose – erstere leben ja häufig in Einrichtungen, zweitere haben gar keine Bleibe – grundsätzlich mehr an gesellschaftlichen Prozessen beteiligen und sie einfach selbst fragen, wie man ihnen helfen kann und was sie brauchen. Wenn man einen öffentlichen Platz gestaltet, sollte man diejenigen fragen, die ihn benutzen: Familien, Studierende, Flaneure, Obdachlose. Bezogen auf unser Thema, die kulturelle Teilhabe, gilt das Gleiche: Man könnte die Leute, die ja erstmal ganz andere andere Probleme haben, auch mal nach ihrem Lesehunger fragen: Hast du denn mal Lust, zu einer Lesung zu kommen? Unter welchen Bedingungen? Wer ist dein Lieblingsschriftsteller, den man mal nach Köln einladen könnte? Und vielleicht statt dem dritten Kaffee mal einen Büchergutschein verschenken. Da habe ich schon leuchtende Augen erlebt bei dem einen oder anderen, der sonst immer nur ein paar Cent in den Hut geworfen bekommt.
CB: Wir haben ja mal über ein Literaturheft gesprochen, wie es auch die SURPRISE in der Schweiz jedes Jahr macht. Das fände ich nach wie vor toll: Kölner Autor*innen stellen Kurzgeschichten oder Gedichte zur Verfügung, Illustrator*innen ihre Zeichnungen. Wenn unsere Straßenzeitungsverkäufer*innen ein solch schön gestaltetes und inhaltlich hochwertiges Heft auf der Straße verkaufen dürfen, wären sie sicher megastolz. Mal davon abgesehen, dass diese Ausgabe dann ja auch denjenigen eine Freude machen würde, die das Heft kaufen. Unter den Straßenzeitungsverkäufer*innen gibt es übrigens auch einige, die gerne schreiben. Wir drucken hin und wieder diese Geschichten ab, weil sie sehr bewegend sind. Warum nicht mal eine gemeinsame Veranstaltung planen oder das Thema Armut auf einer Literatur-Veranstaltung in den Fokus nehmen? Ich stelle jedenfalls gerne den Kontakt zu ein paar „Expert*innen der Straße” her :-)