Zusammenfassung
Interview mit Prof. Dr. Günter Blamberger (Gesamtleitung) und Michaela Predeick (Dramaturgie, Leitung, Organisation) aus dem Organisationsteam der Poetica 2025
Guten Tag, Günter Blamberger und Michaela Predeick, Sie sind beide im Organisationsteam der diesjährigen Poetica, die vom 20.- 25. Januar 2025 in Köln stattfinden wird. Mit dieser Ausgabe jährt sich das Festival zum zehnten Mal. Sie, Herr Blamberger, sind ja sogar einer der Initiator:innen und somit von Beginn an dabei. Wenn Sie nun zurückblicken auf die Anfänge: Wie kam es zu der Idee in Köln ein Festival für Weltliteratur mit dem Schwerpunkt Lyrik zu organisieren?
Blamberger: Ich war vor meiner Professur in Köln Professor für Germanistik in Kassel und habe da bei der Documenta mitgearbeitet. So kam ich auf die Idee eine Art Documenta der Poesie zu machen. Das wäre allerdings vollkommen größenwahnsinnig gewesen, hundert Tage – so lange dauert ja die Documenta – Lyrik in Köln! Ich habe dann mit Thomas Böhm, dem damaligen Leiter des Literaturhauses in Köln, ein Konzept erarbeitet. Ab 2009 war ich zudem Direktor des Internationalen Wissenschaftskollegs Morphomata, also eines internationalen Kollegs, das untersucht hat, wie eigentlich in Literatur, Musik, Architektur und den Künsten allgemein Wissen über andere Kulturen transportiert wird. Manchmal verraten uns diese Disziplinen ja mehr über andere Kulturen als die ‚reinen‘ Wissenschaften. Im Zuge dieses Kollegs konnte ich bereits einige Dichter einladen und habe daraufhin dann meine erste Poetikdozentur „Literator“ organisiert, u.a. mit Daniel Kehlmann, Péter Esterházy und Sibylle Lewitscharoff, die jeweils auch ihre Übersetzer mitgebracht haben. Von Anfang an waren diese Veranstaltungen als Friends and Family-Modell angelegt, d.h. die Dichter und Dichterinnen sowie die Wissenschaftlerinnen blieben die ganze Woche zusammen. Das funktionierte so gut, dass zusammen mit der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, deren Mitglied ich bin, die Idee entstand, ein Weltliteraturfestival für ein breiteres, interessiertes Publikum ins Leben zu rufen. Ich arbeitete eng mit dem Hanser-Verleger Michael Krüger zusammen, der damals so etwas wie der deutsche Lyrikpapst war. Der hat gleich eine ganze Dichterschar mitgebracht, alles quasi künftige Nobelpreisträger. Das schlug ein und war sofort ein voller Erfolg. Über die letzten zehn Jahre hat sich dieser Erfolg immer weiter gesteigert.
Was ist ihr Geheimrezept für den immensen Erfolg des Festivals, der mittlerweile weit über Köln hinausreicht?
Blamberger: Unser Alleinstellungsmerkmal ist erstens, dass wir das Friends and Family-Modell von einst beibehalten haben. Das heißt, die Dichterinnen verschwinden nach ihren Veranstaltungen nicht einfach wieder, sondern sind in der Regel die gesamte Festivalzeit zusammen. Sie frühstücken zusammen, essen zusammen, reden mit dem Publikum. Das macht einen enormen Unterschied zu anderen Literaturfestivals. Zweitens lesen bei uns alle in Originalsprache mit Übersetzung. Und drittens repräsentieren wir auch marginale Kulturen, wie beispielsweise Mongolisch, Arabisch und Aborigine-Sprachen. Zudem gibt es während der Nachmittagsveranstaltungen auch einen regen Austausch zwischen Wissenschaftlerinnen und Dichterinnen. Das Entscheidende ist auch, dass wir jedes Jahr ein zentrales Thema setzen, das auf den Augenblick der Gegenwart berechnet ist.
Mit der Wahl des Themas werden durchaus auch politische Akzente gesetzt, z.B. hieß das Thema, das von der Schriftstellerin Yoko Tawada für die Poetica IV gewählt wurde, „Beyond Identities“. In diesem Jahr ist das Thema „Poetic Thinking and Hospitality – Freiräume der Poesie“, d.h. grob formuliert die Gastfreundschaft. An dieser Stelle einmal provokant gefragt: Hält Poesie solch politischen Ansprüchen stand? Kann ein Gedicht wirklich politisch sein?
Predeick: Genau dafür stehen die vergangenen Poetica-Festivals ja ganz deutlich. Auch das Publikum spiegelt uns diesen Eindruck regelmäßig. Es lassen sich auch immer politische Themen finden, die diese Verbindung ermöglichen. Die Poetica VIII stand beispielsweise unter dem Thema „Das chorische Ich“, da ging es dann um die Repräsentation von marginalisierten Gruppen. Zuletzt hatten wir mit Daniela Danz das Thema „Nach der Natur“, bei dem es ganz klar um ökologische Themen und Eco-Poetry ging. Lyrik ordnet die Dinge keinem Schwarz-Weiß-Denken unter, man lässt viele verschiedene Facetten zu. Wir glauben ganz stark, dass mit dem aktuellen Thema „Poetic Thinking und Hospitality“ die offene, einladende Geste zum freien Denken betont wird, die die Lyrik auch immer darstellt.
Blamberger: Man darf die Frage, wie politisch oder gesellschaftsrelevant ein Gedicht sein kann, auch nicht nur aus der deutschen Perspektive betrachten. Zwar wird die Lyrik hierzulande durch Performances und öffentliche Auftritte, die auch wir im Festival leisten, in letzter Zeit besser wahrgenommen. Aber natürlich werden Gedichtbände in Deutschland weiterhin vergleichsweise wenig gelesen und gekauft. In anderen Ländern ist das anders. Dort hat Lyrik eine eminent politische Bedeutung, sie ist wirklich gemeinschaftsstiftend in den Communities und somit natürlich auch politisch wirksam.
Wie ist das diesjährige Thema „Poetic Thinking and Hospitality – Freiräume der Poesie“ entstanden?
Predeick: „Poetic Thinking and Hospitality“ zeigt viele Aspekte auf, die die Poetica insgesamt betrifft. „Hospitality“, d.h. Gastfreundschaft, ist einerseits etwas, was wir im poetischen Sprechen sehen und andererseits versuchen wir auch durch das Festival selbst Gastfreundschaft zu leben und zu vermitteln, sowohl in Richtung Publikum, als auch in Richtung der Autor:innen. Es ist erst einmal ein sehr breites Thema, lässt sich allerdings auch sehr gut konkretisieren und berührt dabei immer wieder grundlegende Aspekte des Festivals, wie beispielsweise die Frage: Wie können Gedichte zu einem anderen Denken einladen? Dieser Zusammenhang von Gastfreundschaft und poetischem Denken wird sicherlich auch in der Festivalwoche deutlich werden.
Blamberger: Ich glaube, die Faszination besteht einfach darin, dass das Denken nie an ein Ende gerät, weil man immer wieder nach neuen Begriffen sucht. Dichtung berührt uns zudem auch auf vielerlei Ebenen, nicht nur auf einer reinen sprachlichen. Wir lassen ja in Originalsprachen lesen, die viele aus dem Publikum zunächst einmal nicht verstehen – es berührt trotzdem! Es gibt da ein emotionales Moment, wenn man Dichterinnen in Mimik, Gestik, ja, in ihrem ganzen Rhythmus sieht, wie sie sozusagen ihre Gedichte tanzen oder singen oder auch mal ganz zornig sind. Genau das eröffnet Denkräume und lädt dazu ein, in diesen Denkraum mit einzutreten. Nicht nur wir sind die Gastgeber des Festivals, sondern auch die Dichterinnen, die uns in ihre ganz eigenen Denkräume einladen.
Das spricht ja auch für die Live-Performance. Was hat sich in den vergangenen zehn Jahren, in denen es das Festival gibt, hinsichtlich der Lyrik verändert, auch in Köln?
Blamberger: Schon 2015 gab es eine starke Lyrikszene. Im Verlauf der vergangenen Jahre hat allerdings der performative Aspekt, den ich gerade angesprochen habe, stark zugenommen. Reine Wasserglaslesungen werden seltener. Vor zehn Jahren gab es zudem noch gar kein wirklich großes vergleichbares Lyrikfestival außerhalb von Berlin. Die Uni Köln ist meines Wissens bis heute auch die einzige Uni, die überhaupt jemals ein Literaturfestival gegründet hat. Das ist etwas Besonderes, weil wir ausdrücklich auch Literatur- und Kulturwissenschaftlerinnen mit einbeziehen.
Predeick: Ich bin ja erst seit der Poetica VII als Dramaturgin im Organisationsteam dabei, kann also nur diesen kürzeren Zeitraum überblicken. Ich glaube allerdings auch, dass in der Lyrikszene schon unheimlich viel Spannendes passiert ist und immer noch eine immens hohe Strahlkraft von ihr ausgeht. Es gibt immer wieder spannende neue Autor:innen zu entdecken.
Welche Relevanz hat der Standort Köln für die Poetica hat, insbesondere auch die Literaturszene in Köln?
Predeick: Köln ist als Standort für uns unglaublich wichtig. Jeder Abend wird im Grunde in Kooperation mit anderen Institutionen in Köln gestaltet, wie beispielsweise dem Literaturhaus oder der Stadtbibliothek. Auch die KHM hat für uns durch den neuen Schwerpunkt auf Literarisches Schreiben an Bedeutung gewonnen, insbesondere auch durch die Lehrenden Monika Rinck und Kathrin Röggla. Oder auch durch Nadja Küchenmeister. Die Kölner Literaturszene ist insgesamt sehr lebendig. Die Neugierde und Offenheit, mit der so viele Menschen zu unseren Veranstaltungen kommen, um Neues zu entdecken, finde ich schon bemerkenswert.
Blamberger: Köln und NRW ist insgesamt auch einfach ein toller Standort, das muss man unbedingt betonen. Denn als das Wissenschaftskolleg zu Ende war, da war die maximale Förderzeit zu Ende und die Förderer konnten nicht mehr zahlen. Da sind dann die Kunststiftung Nordrhein-Westfalen und auch das Ministerium für Wissenschaft und Kultur eingesprungen, ebenso wie die Uni Köln mit einem größeren Betrag. Das ist alles überhaupt nicht selbstverständlich, gerade heutzutage, wenn man zum Beispiel an die Berliner Situation denkt, wo Förderungen eingestampft werden und selbst die größeren Theater bedroht sind. Wir haben über die Jahre hinweg immer mehr Publikum gewonnen. Wir wussten anfangs nicht, ob ein Festival, das rein auf Poesie setzt, wirklich erfolgreich sein könnte. Und dann auch noch zur Karnevalszeit. Die Kölnerinnen und Kölner haben das allerdings wirklich gerockt, das kann man nicht anders sagen. Wir haben dem Publikum mindestens ebenso viel zu verdanken wie den Dichter:innen. Und wir konnten auch immer ein junges Publikum erreichen.
Können Sie einen Ausblick geben, was in den kommenden Jahren in Bezug auf die Poetica passieren wird?
Blamberger: Bis zum Jahr 2027 sind zumindest die Verträge der Beteiligten gesichert. Sie wird also stattfinden. Über die Themen und Kuratorinnen können wir im Moment allerdings noch gar nichts sagen. Nur so viel: Dies wird die letzte Poetica sein, die ich mitorganisiere. Es wird aber eine Nachfolge geben. Mehr dazu kann allerdings erst zu einem späteren Zeitpunkt verraten werden.
Günter Blamberger, Michaela Predeick, vielen Dank für das interessante Gespräch.