Zusammenfassung
Die Autorin und Pädagogin Dr. Nicol Goudarzi über das Konzept der inklusiven Literaturpädagogik
Dr. Nicol Goudarzi ist Autorin und Pädagogin. Ihr Themenschwerpunkt ist die sogenannte „inklusive Literaturpädagogik“, die sie in verschiedenen Workshop – und Coachingformaten vermittelt. Sie lehrt an der Akademie der kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW die Qualifizierungsreihe „Inklusive Literaturpädagogik“. Wir fragen nach, was es mit diesem Konzept auf sich hat und wie es sich vermitteln lässt.
Guten Tag, Nicol Goudarzi, Sie führen die berufsbegleitende Qualifizierung „Inklusive Literaturpädagogik“ durch. Das klingt sehr interessant. Was heißt das konkret und was genau meint „Inklusive Literaturpädagogik“?
Es ist ein Format, in dem sich die Literaturpädagogik Menschen mit unterschiedlichen Bedarfen, Bedürfnissen und Behinderungen gegenüber öffnet. Wir haben in Deutschland leider noch immer ein sehr ausgliederndes Schulsystem, wo viele Menschen, die Behinderungen haben, gar nicht in der Gesellschaft sichtbar werden. Ich erlebe oft eine gewisse Vorsicht, ein Angebot für Gruppen zu gestalten, wo jemand mit irgendeiner Form von Behinderung mitwirken kann. Oft wirkt es tatsächlich so, als würden sich das die Veranstalter:innen nicht zutrauen. Da gibt es Berührungsängste, weil man sich auch allgemein leider in der Gesellschaft selten über Bedürfnisse und Behinderungen austauscht. Die Begegnung und das Sich-darüber-klar-werden, dass ja alle Menschen gleich sind, vor allem auch mit all den unterschiedlichen Bedürfnissen, die wir alle haben, das ist gar nicht so selbstverständlich. Ich hoffe, dass sich über die Literatur und die Literaturpädagogik Begegnungsräume öffnen lassen, um miteinander in Kontakt zu kommen, an und mit Literatur zu arbeiten und sich allgemein mit Literatur zu beschäftigen.
Wie darf ich mir Literaturformate konkret vorstellen, die inklusiver gestaltet sind? Wie kann man da alle Bedürfnisse abdecken, wenn sie ja mitunter auch sehr unterschiedlich sein können?
In der berufsbegleitenden Qualifizierung kann ich nicht leisten, dass jede:r aus der Fortbildung als Expert:in für bestimmte förderpädagogische Schwerpunkte herausgeht. Es geht in erster Linie um die Sensibilisierung für verschiedene Bedürfnisse, Bedarfe und Behinderungen. Am Anfang zeige ich in der Regel anhand des sogenannten Kubia-Modells (ein Tool zur strukturierten Analyse, Planung und Umsetzung von Barrierefreiheit in Kunst und Kultur, Anm. d. Red.) auf, was es überhaupt an unterschiedlichen Bedarfen und Behinderungen gibt. Denn vielen Menschen ist gar nicht klar, wie vielfältig schon das sein kann. Dabei genügt ein Blick auf das Förderschulsystem und seine vielen unterschiedlichen Schwerpunkte, um zu erkennen, wie breit das Spektrum an Bedürfnissen und Behinderungen ist. Die Teilnehmenden lernen so, wie man bestimmte Barrieren senken kann, sodass sich diese Leute eingeladen fühlen und wissen, wie ein Literaturangebot aussieht, was es leistet und was die einzelne Person mitbringen muss oder wo es Grenzen gibt. Immer mit der Frage im Hinterkopf, wie man Barrieren verringern kann, damit sich die entsprechenden Menschen auch eingeladen fühlen.
Naiv gefragt: Kann man so eine Sensibilisierung denn überhaupt lehren und lernen? Ist das nicht etwas, was man entweder von Natur aus besitzt oder eben nicht?
Ich glaube, dass sich der Blick schärfen lässt. Das klassische Beispiel sind die Gehhilfen. Bekommt jemand einen Rollstuhl oder ist auf einen Rollator angewiesen, denkt man als erstes fast ausschließlich an eine Rampe. Dabei ist viel mehr als nur eine Rampe nötig, um ein Angebot inklusiv zu machen. Das kann die Komplexität von Sprache betreffen, das kann die Strukturierung von Angeboten treffen. Im Theater kennen wir Relaxed Performances, also Vorführungen, die mit Bewegung verknüpft werden, damit Menschen mit höherem Bewegungsdrang daran teilnehmen können. Die funktionieren allerdings wiederum weniger für Menschen, die stark von Wahrnehmungsreizen abgelenkt werden. Diese Menschen bräuchten dann eher eine Silent Performance. So ähnlich kann man sich die Überlegungen auch im Bereich der inklusiven Literaturpädagogik vorstellen. Man verschafft sich einen Überblick über die unterschiedlichen Bedarfe, die verschiedene Gruppen haben, um dann zu überlegen, worauf man eingehen kann. Dabei gilt es auch zu erkennen, dass es nicht möglich ist, ein Angebot machen, das allen Bedarfen gerecht wird, weil diese teilweise auch konträr zueinanderstehen können. Aber ich kann Schwerpunkte setzen. Mache ich beispielsweise ein Angebot, das besonders offen für bewegungsfreudige Menschen ist, ist es dann eben auch mal laut, wenn dann Kinder herumtoben. Schaffe ich allerdings ein Angebot, das sehr stark strukturiert und ruhig ist, können zum Beispiel auch Kinder oder Erwachsene im Autismus-Spektrum davon profitieren und sich gut darauf einlassen.
Betrifft die inklusive Literaturpädagogik nur Menschen mit Behinderungen oder besonderen Bedarfen?
Zum einen geht es ja gerade um Austausch und Zusammenkunft. Menschen mit und ohne Behinderung begegnen sich im Alltag relativ selten. Deswegen: Nein, es betrifft nicht nur eine bestimmte Personengruppe. Es ist zum anderen ja auch so, dass jeder Mensch Dinge kennt, die besonders leicht fallen oder nicht. Ich beispielsweise bin ein sehr strukturierter Mensch, ohne dass ich mich im Autismus-Spektrum bewege. Oder wenn wir ans Altern denken, kann es immer sein, dass wir motorische Einschränkungen erleben. Es gibt in Bezug auf die Architektur dieses Prinzip des Universal Design. Das meint, dass ich in der Planung möglichst viele Bedarfe mitdenke, um universell nutzbare Orte zu schaffen. Dieser Anspruch lässt sich gut auf literarische Veranstaltungsformate übertragen: Denke ich möglichst viele Menschen mit, fühlen sich auch viele unterschiedliche Menschen einladen.
Insgesamt ist es Ihnen als Autorin ein Anliegen, Literatur barriereärmer zu gestalten, ob nun im Schreiben oder der Entwicklung von Literaturformaten. Da höre ich jetzt sofort kritische Stimmen, die dann fragen: Kann das denn noch Literatur sein, wenn beispielsweise etwas in einfacher Sprache geschrieben ist und weniger poetisch? Was entgegnen Sie solchen Stimmen?
Ich glaube, oft geht es bei dieser Frage um eine Unterscheidung zwischen Plot und Sprachkunst. Wenn ich einer breiten Leser:innenschaft Dumas’ Der Graf von Monte Christo zugänglich machen möchte, dann wird das höchstwahrscheinlich nicht im Originalformat funktionieren. Es gab ja beispielsweise immer schon kindgerechte oder sprachlich modernisierte Ausgaben, um den Plot bzw. die Handlung zu vermitteln. Der Graf von Monte Christo in einfacher Sprache sehe ich genau in dieser Tradition. Dabei ist es durchaus auch möglich, über die stilistischen Mittel zu sprechen, die Alexandre Dumas in dem Buch verwendet hat. Die Inhalts- und die Stilebene müssen nicht in Konkurrenz stehen, auch wenn sie zwei unterschiedliche Perspektiven auf ein Werk eröffnet. Es ist zudem wichtig zu erwähnen, dass es ein Recht auf Bildung und kulturelle Teilhabe gibt. Das ist sogar in der UN-Behindertenrechtskonvention festgehalten. Insbesondere das Recht des Zugangs zu barrierefreien Texten ist da zentral. Und da sind wir noch lange nicht am Ziel angelangt, um diese Rechte wirklich einzulösen.
Das bringt mich zu Ihrem Konzept der „basalen Aktionsgeschichten“. Können Sie uns erklären, was es damit auf sich hat und wie es zu der Idee kam?
Das sind Geschichten für Menschen mit komplexer Behinderung, also mit sogenannter Schwerstmehrfachbehinderung. Da erfolgt die Kommunikation und der Zugang zu Literatur auf einer eher basalen Ebene. Oft ist beispielsweise die Sprachproduktion mit Mundsprache nicht möglich, sondern man braucht assistive Technologien oder Hilfsmittel, damit diese Menschen sprechen, sich beteiligen und interagieren können. Viel funktioniert auch über die sensorische Ebene, weil ich nicht immer wissen kann, wieviel kognitiv von dem, was ich in den Geschichten anbiete verarbeitet und verstanden werden kann. Ich habe also zusätzlich zur verbalen Ebene eine zweite sinnlich-sensorische Ebene, die die Geschichte unterstützt. Dieser Gedanke ist nicht neu und findet sich schon bei den sogenannten Mehr-Sinn-Geschichten, die von der Kölner Professorin Barbara Fornefeld entwickelt wurden. Mir war allerdings wichtig, noch eine kommunikative Ebene hinzuzufügen, die in eine klare Wiederholungsstruktur innerhalb der Geschichte eingebettet ist. Die Kinder können also den Sprechtext eigenhändig mitgestalten und teilweise darüber entscheiden, wie die Geschichte weitergeht. Wir müssen uns vor Augen führen, dass wir es bei Personen mit komplexer Behinderung häufig mit Menschen zu tun haben, deren Selbstwirksamkeitserleben im Alltag sehr eingeschränkt wird. Da ist es wichtig, ein möglichst hohes Maß an Mitbestimmung und Mitgestaltung in die Gestaltung von Geschichten einzubringen.
Werden diese Geschichten immer als Live-Veranstaltungen vorgetragen oder ginge das auch zuhause?
In der Regel passiert das live. Ich lese einer Person oder einer Gruppe von Personen eine Geschichte vor und in der Geschichte sind sozusagen Regieanweisungen vermerkt mit den verschiedenen sensorischen Angeboten und die Mitmach-Elemente werden dann in den Raum geholt. Das ergibt sich jeweils durch die Geschichte, die ich vorlese. Da wird dann beispielsweise, wenn jemand durch den Wald geht, Fichtenduftöl angereicht. Oder es wird Sand zum Fühlen angeboten, wenn es in der Geschichte um einen Strand auf einer Insel geht. Das ist eine interessante Frage, ob es auch zuhause ginge, beispielsweise über Video oder ähnliches. Dafür bräuchte man dann wahrscheinlich eine Art Materialpaket, das von einer Assistenzperson dann an die Person mit komplexer Behinderung angereicht wird.
Insgesamt geht die Tendenz weg von der Wasserglas-Lesung. Können Sie positive Beispiele von Projekten oder Veranstaltungen nennen, in der inklusive Literaturpädagogik schon angewandt wird?
Spontan fällt mir eine Veranstaltungsreihe namens „Literatüröffner“ vom Verein Rollipop e.V. ein, die mittlerweile von der Gesellschaft für Unterstützte Kommunikation getragen wird. Dann gibt es Ohrenkuss, ein Magazin, das von und mit Menschen mit Down-Syndrom redaktionell begleitet und geschrieben wird. Die leisten wirklich eine großartige Arbeit. Und Mittendrin e.V. bietet auch häufig inklusive Schreibworkshops an, in denen tolle Texte entstehen und präsentiert werden. Ein sehr eindrückliches Beispiel dafür, wie inklusive Literaturpädagogik und inklusive Literaturformate aussehen können, ist auch die Arbeit von Anja Reetz. Anja Reetz hat eine körperliche Beeinträchtigung und ist großer Haiku-Fan. Sie hat allerdings das Problem, dass sie keine Silben zählen kann, was für diese Poesieform allerdings sehr wichtig ist. Sie liebt aber diese reduzierte Form des Haiku und hat auch das Verständnis dafür, wie ein Haiku aufgebaut ist. Aus einer dieser inklusiven Lesungen von „Literatüröffner“ entstand dann die Idee, sich die Form anzueignen. Eine Person im Publikum rief damals: Mach doch ein Myku! Und daraufhin hat Anja Reetz tatsächlich die Myku-Form für sich entwickelt und publiziert Mykus heute auch in Zeitschriften und lehrt diese Form in Schreibwerkstätten, u.a. mittlerweile auch an der VHS Köln in Kooperation mit dem Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen.
Ist das auch ein Aspekt inklusiver Literaturpädagogik, das Formate in Zusammenarbeit mit Menschen verschiedener Bedarfsgruppen und mit unterschiedlichen Behinderungen entwickelt werden?
Ja, das ist mir ganz wichtig zu betonen. Bei den Veranstaltungen, die ich zum Thema „Inklusive Literaturpädagogik” anbiete, sind immer solche Menschen wie Anja mit dabei. Und zum Glück kenne ich viele Menschen mit Behinderung, die im Kulturbereich aktiv sind und mich als Co-Dozent:innen unterstützen können. Denn aus einer beruflichen Metaperspektive kann ich ganz viel erzählen, die Erfahrungen allerdings, die Menschen wie Anja machen, sind auf einer ganz anderen Ebene enorm wichtig und wertvoll.
Inklusive Gestaltung bedeutet demnach nicht nur, Angebote für Menschen zu entwickeln, sondern in erster Linie mit ihnen, als Gemeinschaftsprojekt.
Genau. Es geht darum, Begegnungsräume zu schaffen. Allein die Gespräche mit Menschen wie Anja Reetz sind immens wichtig. Oder auch Austausch mit jemandem, der/die blind ist, aber zum Beispiel Museumsführungen leitet. Oder ich denke auch an Menschen wie Frank Klein, der auch schon mal als Workshop-Moderator bei den Kinder- und Jugendbuchtagen bei uns in Köln dabei war und der einen E-Rollstuhl fährt, mit einem Sprachcomputer spricht und einen Schlagertext veröffentlicht hat, der in den Charts war. Es geht schlichtweg um kulturelle Teilhabe, nicht darum, diesen Menschen Superkräfte zuzuweisen und damit das ableistische Narrativ zu reproduzieren, jemand sei etwas ganz Besonderes, „nur“ weil er oder sie eine Behinderung hat. Das sind ganz normale, engagierte Menschen mit einer Liebe zur Literatur und Kreativität.
Vielen Dank, Dr. Nicol Goudarzi für die Einblicke in die inklusive Literaturpädagogik!