Zusammenfassung

Ein Nachruf auf den Kölner Schriftsteller Jürgen Becker von Sabine Küchler

„Schreiben ist Arbeit an der Erinnerung“, so hat er es selbst formuliert. Unnachahmlich direkt und lakonisch auf den Punkt gebracht, worum es ihm, dem „Chronisten der Augenblicke“ in seiner poetischen Arbeit ging.

Um „eine zeitlose/Korrespondenz, in der Dinge und Augenblicke aneinandergereiht/sind“. Jürgen Becker, auch das machte ihn aus, war ein Dichter, der präzise benennen konnte, was er da eigentlich vorhatte in seiner Prosa, den Hörspielen, den Gedichten. Und seine poetologischen Bemerkungen blieben stets bei der Sache. Und bei uns Lesern. Als wollte er uns lediglich den Einstieg erleichtern in seine Gedankenwelt. Eine Geste der Freundlichkeit, die für ihn so typisch war. 

1932 in Köln geboren, kam er – nach Jahren in Thüringen – 1950 zurück in seine Stadt. Und Köln ist immer präsent in seinen Texten, etwa im Blick aus seinem Büro im Deutschlandfunk (wo er von 1974 bis 1993 Leiter der Hörspielabteilung war) auf die „Kölner Bucht“ und das Bergische Land, „Odenthals Küste“. Neben Heinrich Böll und Dieter Wellershoff war er das dritte literarische Schwergewicht, das Köln zu einem Ort der Literatur gemacht hat. Bereits in der frühen experimentellen Prosa („Felder“, „Ränder“, „Umgebungen“) kartographierte er sein Revier und bis zu seinem letzten Buch, dem Gedichtband „Nachspielzeit“ (2024), hat er sich schreibend dieser, seiner Gegend versichert.

Am 7. November ist Jürgen Becker im Alter von 92 Jahren gestorben. Und man weiß nicht recht, wie man den Verlust begreifen oder angemessen beschreiben soll. Eine der letzten Stimmen der deutschen Nachkriegsliteratur ist verstummt. Ein Mentor und Freund für so viele nachfolgende Autoren. Ein writer‘s writer. Eine Instanz der Kölner Literaturszene. Ein Chronist und Landschaftsmaler. Ein begeisterter Zeitungsleser, leidenschaftlicher Radiomann, passionierter Raucher. Unvergesslich wie selbstverständlich er 2015 bei der ersten Poetica auf der Bühne saß neben Lars Gustafsson, John Burnside und Adam Zagajewski. Spätestens da wurde jedem klar, dieser Jürgen Becker, der so intensiv und genau seine unmittelbare Erfahrungswelt erkundete und in ruhigen Sätzen zu Papier brachte, dieser Jürgen Becker aus Köln schrieb Weltliteratur.

Der typische „Becker-Sound“ ist unverwechselbar. Man muss ihn nur einmal gehört haben beim Vortragen seiner Texte: wie er den Versen Atem gab, wie er mit coolem Understatement Rhythmuswechsel andeutete, Tempo machte und wieder innehielt. Es war eine Art Jazz, was man da hörte, lässig wie bei den amerikanischen Poeten, die ja auch mit Wörtern arbeiten, die jeder verstehen kann, und die keinerlei kapriziöse Verstellung nötig haben. Auf den ersten Blick kommen Beckers Texte immer ganz leicht daher: Keine besondere Metaphorik, ein gefasster, melancholischer Ton, ein Repertoire wiederkehrender Motive und Erinnerungen. Aber so einfach, wie die Oberfläche der Texte es vermuten lässt, ist es dann doch nicht: Aus Landschaften werden plötzlich Landschaften des Bewusstseins, Korrespondenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit werden geknüpft, eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wird hergestellt, die uns in einen ganz eigenen Wahrnehmungsraum versetzt. „Bewusstseinsarchäologie“ ist ein Begriff, den Becker selbst gern für seine Arbeit benutzt hat. Und wer ihn liest, erlebt unmittelbar, wie unser Gedächtnis lauter Augenblickspunkte nebeneinander bewahrt, die ein dauerndes Jetzt erzeugen. Unserem Bewusstsein ist es egal, ob etwas vor fünfzig Jahren geschah oder vergangene Woche, und so sprechen in unseren Selbstgesprächen immer Erinnerungen mit, „auf eine Weise, als sei das Erinnerte ein Moment der Gegenwart“. Bemerkenswert genug, dass Becker diesen komplexen Prozess der Erfahrung in Worte zu fassen verstand, die jedem unmittelbar einleuchteten. Keine Pose, keine prätentiöse Formulierung trübt die Klarheit der Gedanken. 

Jürgen Becker mochte den Satz aus Rilkes „Malte“, der besagt, dass „Verse Erfahrungen sind und nicht Gefühle“. Und noch nüchterner heißt es an anderer Stelle: „Schreiben ist Materialarbeit“. Zu dieser Arbeit am Material gehört auch die Methode der Wiederholung. Als gäbe es immer einen Rest, etwas, das noch nicht gesagt worden ist, das sich heute anders darstellt als damals, etwas, das immer noch bohrt im Gedächtnis. Der Kosmos seiner Bücher mag überschaubar wirken, aber es ist doch ein Kosmos. Eine ganze Welt, bevölkert von Amseln und Hähern, begrenzt von den notorischen Pappelreihen, rhythmisiert durch das Fallen der Birnen und Pflaumen im Garten, und all das begleitet von den Radiomeldungen des Deutschlandfunks. Zeit vergeht, das Wetter ändert sich, die Jahreszeiten wechseln, wieder ist ein Jahr vorbei. Das Gedichteschreiben als Form des Journal-Führens – seine Idee, wie man sein Schreiben auch verstehen sollte. Lesend und staunend nehmen wir teil an dieser „Art Selbstgespräch“. Wir fühlen uns gemeint. Gerade weil das Repertoire autobiographischer Erfahrungen und Bilder bei Jürgen Becker so detailgenau und präzise ist, wird daraus etwas Exemplarisches. 

1962 erschienen ist eine Anthologie mit dem Titel „Vorzeichen. Fünf neue deutsche Autoren“, darin schreibt der Herausgeber Hans Magnus Enzensberger über den Debütanten Jürgen Becker: „In Beckers Prosa schießt Vergangenheit überall ein, besetzt sogar ganze Felder, wird zum integralen Bestandteil der Gegenwart.“ Diese Überlagerung von Gegenwartserfahrung und Erinnerungsbildern blieb sein Markenzeichen und seine Methode und erzeugte in den Gedichten oft eine vibrierende Unruhe, die sich auf den Leser übertrug. In den späten Jahren wurden die Erinnerungen an die Kindheit im Krieg immer mächtiger, gewiss auch ausgelöst durch den Krieg in der Ukraine. Denn ein Bewohner des Elfenbeinturms ist Jürgen Becker nie gewesen. 2014 hat er seiner Rede zum Büchner-Preis den Titel gegeben „Vom Mitschreiben der Wirklichkeit“. Und darin heißt es gegen Ende: „Die Erfahrung, die sich wiederholt, ist immer wieder eine andere; die eigene Biographie, die eine Biographie unserer Zeit ist, hält zu viel noch verborgen, was zu entdecken ist.“

Kennengelernt habe ich Jürgen Becker vor über dreißig Jahren im Deutschlandfunk. Ich schrieb erste Rezensionen, machte vorsichtige Versuche am Mikrofon, hatte ein paar Gedichte in einem winzigen Verlag veröffentlicht.

Zu meiner Überraschung waren ihm meine Schreibversuche bekannt, und er behandelte mich fortan wie eine richtige „Kollegin“. Ich kenne ihn nicht anders als zugewandt, ermutigend, die Inspiration anfachend. Man war einfach immer ein wenig begabter, wenn man ihn verließ als zuvor. Nie wieder bin ich einem Schriftsteller begegnet, der Jüngeren mit so viel Neugier und Großzügigkeit entgegenkam. Kein Wunder also, dass ihm so viele “Nachkommen“ in liebender Freundschaft verbunden sind: Marcel Beyer, Lutz Seiler, Marion Poschmann, Nadja Küchenmeister und so viele andere. 

Als er mir vor einem Jahr einen Text anvertraute, wussten wir nicht, dass es sein letztes Hörspiel werden sollte. Fünf Stimmen, jede in ihrer eigenen Umgebung: Wer sind wir, wenn wir allein sind? Wie lenken unsere Erinnerungen unser Bewusstsein und unsere Wahrnehmung? Fragen wie diese umkreist das Stück „Erzählen wie es weitergeht“, das Matthias Kapohl inszeniert hat. Es war ein Glück, die Schauspieler im Studio zu erleben, die diesen Text auf Anhieb geliebt haben, weil er so genau gearbeitet war, so gut im Mund lag. Weil da ein Mensch geschrieben hatte, der viel vom Leben und vom Schreiben verstand.

Sabine Küchler (Hörspiel-Redakteurin im Deutschlandfunk) 

(https://www.hoerspielundfeature.de/erzaehlen-wie-es-weitergeht-100.html)