Der Seiltänzer
Im Gegensatz zu Dante war es mir nicht in die Wiege gelegt, hoch über allem zu stehen. Mir war gar nichts in die Wiege gelegt. Ich war der Fünfte von Sechsen, im Suff gezeugt, ein kümmerliches Würmchen, keinen hätt` es gestört, wenn mir schnell die Puste ausgegangen wäre. Aber ich schaffte es aus den Windeln auf die Beine, mit den Beinen auf die Straße und von der Straße auf die schiefe Bahn. Schiefe Bahn, ich sag, wie es ist. Jetzt rümpfen Sie mal da unten im Publikum nicht Ihre feinen Näschen! Selbst nie in Not geraten, aber auf andere runtergucken, das habe ich gern! Dabei guck ich ja grade auf Sie herunter. Verdammich, ist das hoch, merke ich mal wieder. „Niemals nach unten blicken, Dustin!“, sagt Dante immer. Dante, der war meine Rettung …
Aber weiter im Text, bevor mir noch mulmig wird. Ein Dieb war ich, Portemonnaies, Uhren, Armbänder. Die Straße war mein Revier. Flink und wendig war ich, weil das wirste, wenn immer mal wieder eine Flasche nach dir fliegt, oder du einer Faust ausweichen musst. Hab’s zum Meisterdieb gebracht und fette Kohle gemacht. Das schafft Neider. Ein Hehler hat mich verpfiffen. Jugendknast, falsche Freunde, Alkohol, das ganze Programm. Irgendwann war ich wieder draußen, wieder auf der Straße, aber nicht mehr als Meisterdieb, sondern als Schnorrer. Hab nur von einer Flasche zur nächsten gedacht, und wenn ich dazwischen ein bisschen klar im Kopf war, hat es mich angekotzt, dass ich so geworden bin wie meine Alten. Um nicht daran zu denken, musste ich weitersaufen. Ein verfluchter Kreislauf. Hab gehofft, dass ich mal im Total-Knockout des Suffs bleiben kann, wo mich nichts mehr plagt, und hab gleichzeitig Schiss gehabt, dass nach dem Ende alles so weitergeht, vielleicht noch schlimmer wird. Woher soll man´s wissen? Ist ja noch keiner von der anderen Seite zurückgekehrt.
Ist oft vorgekommen, dass ich am Morgen irgendwo aufwachte und nicht wusste, wie ich dahingekommen war. Trostlose Orte meist. Mal lag ich unter einer Brücke, aber eher am Straßenrand oder auf einem betonierten Parkplatz am Rande der Stadt. Auf so einem hat mich Dante gefunden.
„Hey, du versoffener Mistkerl, steh mal auf.“ So seine ersten Worte, und ich hab mich aufgerappelt. Dann standen wir uns gegenüber: zwei kleine Männer, fast gleich groß. Obwohl Dante mindestens zwanzig Jahre älter war als ich, wusste ich: Mit dem darfste dich nicht anlegen. Drahtig war er, jede Faser seines Körpers pure Energie. „Könnte passen“, meinte er, nachdem er mich von unten bis oben gemustert hatte. „Pack deinen Büggel und komm mit.“ Er deutete auf das Zirkuszelt, das mitten auf dem Parkplatz stand, führte mich zu einer kleinen Wohnwagenkolonie hinter dem Zelt und kletterte in den kleinsten hinein. „Ab unter die Dusche“, sagte er und warf mir ein Handtuch zu. „So lang du stinkst wie ein Tiger, kommste mir nicht nach drinnen.“
Am Abend sah ich ihn dann zum ersten Mal auf seinem Seil, ganz oben in der Zirkuskuppel. Er equilibrierte – das schwierige Wort geht mir inzwischen leicht über die Lippen – zwischen Himmel und Erde. Als wäre er leicht wie ein Vogel, als wäre er ein Kind der Lüfte.
„Ich brauche einen zweiten Mann dort oben“, sagte er, als wir später vor seinem Wohnwagen saßen, und musterte mich wieder. „Du warst mal flink und wendig, du bist gemacht für das Seil, das seh ich. Aber erstmal musst du den Suff loswerden. Du säufst noch nicht lang, oder? Das ist zu schaffen! Aber damit du es weißt: Beim ersten Schluck bist du weg vom Fenster.“
Klar würden Sie da unten jetzt gern glauben, dass ich nach dem Strohhalm gegriffen hab, weil einer wie ich ja nach jedem Strohhalm greifen sollte. Hab ich aber nicht. Dabei ist es nicht die Hoffnung, die einen umbringt, es ist das Wissen, dass es die Hoffnung ist, die einen umbringt. Hab mich umgedreht und bin gegangen. Da oben auf dem Seil stehen wie Dante? Heiliger Dünnschiss, eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr.
Ich hing also weiter an der Flasche und schleppte mich durchs Leben. Doch ich wurde das Bild nicht los, wie der alte Dante oben auf dem Seil stand, leicht wie ein Vogel, ein Kind der Lüfte. Warum nicht, habe ich mir gedacht, wenn Dante mir das wirklich zutraut.
Ein halbes Jahr später war der Zirkus zurück, und ich klopfte bei Dante an. Der Entzug war die Hölle, trotzdem musste ich jeden Tag aufs Seil. Wenn nachts die Dämonen kamen, erzählte mir Dante Geschichten, wie die von Charles Blondin, der auf dem Seil über die Niagarafälle tanzte. Am Morgen wartete wieder das Seil auf mich. Ich hab´s verflucht. Zwei Schritte vor und drei zurück trifft es am besten. „Geht doch“, hat Dante gesagt, wenn ich mal wieder hinschmeißen wollte. „Du schaffst das schon.“ Und das stimmte. Und nun stehe ich in der Kuppel ohne Netz und doppelten Boden.
Wie Dante am anderen Ende des Seils greife auch ich nach der Balancierstange. Unsere Bewegungen sind synchron, so, als wäre einer der Spiegel des anderen. Dante schaut mich an und nickt. Und ich mache den ersten Schritt.
Brigitte Glaser, Jahrgang 1955, studierte Sozial- und Medienpädagogik, lebt als freie Autorin in Köln. Beginnend mit Leichschmaus, hat sie acht Krimis mit ihrer Detektivin wider Willen, der Köchin Katharina Schweitzer, fünf Krimis für Jugendliche und unzählige Kurzgeschichten veröffentlicht. Ihr Roman Bühlerhöhe stand 2016 wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste. Die literarische Erkundung der jungen Bundesrepublik setzte sie mit den Romanen Rheinblick, 2019, und Kaiserstuhl, 2022, fort. Seit 2018 ist sie die stellvertretende Vorsitzende des SYNDIKATS – des Vereins für deutschsprachige Kriminalliteratur.