Die sanfte Stimme der Menschlichkeit. Nachruf auf Doğan Akhanlı.

„Die Liebe zur Literatur hat mein Leben seit der Kindheit bestimmt“, sagte Doğan Akhanlı einmal. „Literatur war mir immer sehr wichtig, um zu reifen und zu reflektieren. Sie hat dafür gesorgt, dass ich stets vorsichtig und bedacht mit Sprache umgehe. In der Literatur führt jede Antwort zu weiteren Fragen. Im Gefängnis waren die Bücher, die ich gelesen hatte, immer bei mir, und wenn ich die Augen schloss, kamen neue Geschichten zu mir.“

Und diese Geschichten hat er aufgeschrieben in seinen Romanen und fürs Theater. Es sind Geschichten der Menschlichkeit, der Versöhnung – und gerade deswegen auch Geschichten all des Grauens, das Menschen im 20. Jahrhundert zu verantworten haben: Der Genozid an den Armeniern; der Holocaust; der NSU-Terror. Das Erinnern der großen Menschheitsverbrechen war ihm nicht minder wichtig als auch, sie zu verstehen, denn die Verleugnung trägt stets die Gefahr neuer Verbrechen in sich. Das ist eine der Botschaften seines Romans „Madonnas letzter Traum“, dem letzten seiner Bücher, das auf Deutsch erschienen ist. Zugleich ist es eine Hommage an Sabahattin Ali und eine Liebeserklärung an die Literatur und an das Lesen.

Doğan wurde 1957 in der Türkei geboren, wuchs ländlich auf, ging mit zwölf Jahren nach Istanbul. 1992 kam er mit seiner Familie nach Deutschland, nach Köln, ins Exil. Zweimal war er in der Türkei verhaftet worden, zwei weitere Male sollten folgen, zuletzt 2017 in Spanien aufgrund eines türkischen Haftbefehls. Erst da wurde er in Deutschland einem größeren Publikum bekannt. Als politisch Verfolgter. Dann als Schriftsteller. Für sein Engagement und seine Bücher erhielt er zahlreiche Preise, darunter die Goethe-Medaille, die er mit einer bewegenden Rede entgegennahm (https://www.youtube.com/watch?v=1Pku07MSd-w). In dieser Rede sagte er, der seine Romane auf Türkisch schrieb: „Ich mag an der deutschen Sprache besonders den Konjunktiv II. Er öffnet uns die Welt des Irrealen, der Träume und des Unwahrscheinlichen. In der von mir am meisten geliebten Form verlegt der Konjunktiv II dieses Reich der Fantasie sogar in die Vergangenheit.“

Nicht nur Schriftsteller war Doğan, sondern auch engagierter Menschenrechtler, der seine Stimme erhob gegen jede Form von Diskriminierung und Repression. Dem Literaturhaus Köln und der Kölner Literaturszene war er in den letzten zwanzig Jahren eng verbunden. Das Publikum wird sich erinnern an seine leise Stimme der Menschlichkeit, an seine bedachten Worte, seine filigranen, und zugleich wortmächtigen Texte und nicht zuletzt an seinen Humor. Seine Kollegen und Freunde erinnern sich an den liebevollen und warmherzigen Menschen, an sein Lächeln und seine Herzlichkeit. Doğan starb, viel zu früh, am 31. Oktober 2021 in Berlin.

Gerrit Wustmann (Köln, Februar 2022)